Eoganachts Erbe
Von circa 2380 nL bis 2416 nL
Ort: Provinz Moncurragh (einschließlich Cuanscadan)
Hinter jedem starken Mann steht eine starke Frau. So hielt auch Eoganacht als Fürst von Cuanscadan das Ruder in der Hand, doch seine Angetraute Ráichéal steuerte …
Ráichéal und Eoganacht schlossen eine Lanuin-Ehe nach alter Sitte, wie es zwischen Partnern aus der höheren gesellschaftlichen Schicht nicht ungewöhnlich ist. Ráichéal entstammte einer alten Linie, die sogar für sich reklamiert, dass ihre Vorfahren von den Coraniaid abstammen. Obwohl vieles behauptet werden kann und nur wenig sich durch Schriften belegen lässt oder durch Geschichten, die mündlich überliefert sind (und die sich deshalb den Vorwurf gefallen lassen müssen, alles zu beurkunden, was gewünscht oder gefordert wird), deuten ihr Aussehen und ihr sehr distanziertes, oft überhebliches Auftreten auf dieses Erbe hin. Eoganacht dagegen war ein junger Draufgänger, der seinem Vater nachschlug. Der Apfel fällt nicht weit vom Baum …
Eoganachts Vater Bruín an’calma stand den Corco Mruad als Toissech vor und regierte über die Provinz Moncurragh, zu der auch Cuanscadan gehört. Als Sitz der Fine diente damals wie heute Dún Neal, eine kleine Burg über dem Dorf Chainnigh. Nach Bruín an’calmas (natürlichem!) Ableben übernahm Eoganacht als Tainistear (Erbe) das Amt des Toissech. Die Fine des Clanns der Corco Mruad hatten traditionell darüber abgestimmt, ob die Entscheidung allgemeine Zustimmung findet, doch längst hatte Ráichéal im Hintergrund die Fäden geknüpft.
Ráichéal ist machtbesessen. Sie hat ein wachsames Auge darauf, dass ohne ihre Fine nichts in Moncurragh entschieden wird. Obwohl sie in der Gegenwart auf die 70 Jahre zugeht, ist sie äußerst agil und wissensdurstig. In manchen Augen strotzt sie sogar vor Vitalität, dass von magischen Hilfsmitteln die Rede ist (auf der anderen Seite wäre ihr selbst im Alter reges Tun wieder ein Hinweis auf ihre Herkunft).
Ein Blick auf die Vorgänge in den Jahren um 2388 nL leuchtet aus, mit welchen Wassern Ráichéal gewaschen ist. Ihr Angetrauter wandelte in jenen Tagen auf fremden Pfaden. Das gemeine Volk würde ihn als „Schwerenöter“ titulieren (und tat dies denn auch, weil er sich gar nicht erst die Mühe machte, seiner Leidenschaft im Dunklen zu frönen), in den offenen ehelichen Gemeinschaften könnte es sogar toleriert werden, aber Eoganacht schlug in den Augen seiner Gemahlin weit über die Stränge. Er sprang von einem Bett ins andere, und das alles nicht standesgemäß, was Ráichéal ein ums andere Mal in Rage versetzte.
Bis ihre selbst gar nicht reine Seele sich noch mehr verfinsterte. Sie machte also gute Miene zum bösen Spiel, bevor die Verbindung vollends brechen konnte. Das bewahrte sie davor, dass Eoganacht die Lanuin auflöste (was nur mit größten Schwierigkeiten möglich gewesen wäre, aber als Toissech und Fürst von Cuanscadan setzt man sich über so manches hinweg, was die Bevölkerung und auch die Weisen Frauen nicht gerne sehen) und ihre Macht dahinschwand. So aber vertrat sie weiterhin die weibliche Linie in der Fine, sie konnte ihre Netze auswerfen wie in den Jahren zuvor und an sich fesseln, was zum Machterhalt nötig war.
Cuílen war der älteste Sohn von Ráichéal und Eoganacht. Als sich die Situation zuspitzte, taperte der Junge noch unbeholfen herum, doch bald schon bemühte seine Mutter sich sehr intensiv darum, ihn nach ihrem Willen zu formen. Sie war zuversichtlich, aus Cuílen den neuen Stadtfürsten zu machen, der ihr aus der Hand fressen würde.
Eoganacht kämpfte derweil an zwei Fronten. Während er guten Mutes war, seine Gemahlin mit seinem zweifellos vorhandenen Charme ruhig zu stellen, bedrängte ihn eine andere Gefahr umso mehr. In Cuanscadan breiteten sich Gerüchte aus, dass die „Schwarzen Schatten“ an Stärke gewannen und die Konfrontation mit dem Fürsten suchen würden. Verstehen konnte Eoganacht das nicht, hielt er sich doch für einen freigiebigen („Jedem Bürger gebührt ein kostenloser Hering am Tag!“) und geliebten Herrscher. Eoganacht irrte auch hier, und auch hier bewies Ráichéal den größeren Weitblick.
Letztlich kulminierten die Ereignisse im Jahre 2388 nL. Eoganacht hatte es auf die Spitze getrieben, als sogar von einem nichtehelichen Nachkommen die Rede war. Eine Dirne aus einem drittklassigen Freudenhaus im Hafenviertel reklamierte Ansprüche, die selbst nach dem sehr offenen erainnischen Recht schwerlich einzufordern sind. Aber was viel schlimmer wog: Eoganacht machte sich zum Gespött. Für Ráichéal was sein Handeln das letzte Zeichen, das sie brauchte, um einen Plan in die Tat umzusetzen. Innerlich konnte sie jubeln, denn gerade zu jener Zeit flackerte auf einer kleinen Insel eine Gefahr herauf, die der Fürst nicht richtig einschätzte. Sein Berater jedenfalls – wen wundert es, dass er manch heimliches Wort mit Ráichéal austauschte? – flüsterte ihm ein, dass die lauernde Gefahr in aller Stille beseitigt werden sollte. Denn zur selben Zeit mehrten sich die Stimmen in der Stadt, forciert durch Kräfte im Untergrund, dass Eoganacht nicht der beste aller möglichen Stadtfürsten sei. Und wenn schon nicht der Clann seinem unbilligen Treiben ein Ende macht, dann müssten wohl die „Schwarzen Schatten“, die sich doch einzig und allein auf das Wohl der Menschen in der Stadt sorgen, dem Spuk entgegentreten.
Eoganacht erkannte den Konflikt, in dem er steckte wie eine Maus im Katzenmaul. Wenn er in aller Offenheit gegen Rialtír und ihre Echsenmenschen ins Feld zog, dann würden die „Schwarzen Schatten“ das als Anlass nehmen, ihm den Garaus zu bereiten. Ein Stadtherrscher, der Echsenmenschen in den Tiefen unter Cuanscadan an Bedeutung gewinnen ließ – einen derart schwachen Mann braucht niemand an der Spitze! Demzufolge schien es Eoganacht nur schlüssig, sich in einer geheimen Mission Rialtír entgegenzustemmen. Ein Segelschiff mit treuen Kriegern war rasch bemannt, an einem lauen Morgen trieb das Schiff den Runan bergab und nahm Kurs auf die Insel Mearas. Das Ende dieser Reise ohne Wiederkehr lässt sich im Abenteuer Das Geheimnis der dunklen Coraniaid nachlesen …
Woran aber lag es wohl, dass Eoganacht so schlecht beraten wurde? Die falschen Einflüsterungen, die unweigerlich zum Tod des Fürsten und seiner Mannen führten mussten, nährten sich aus einer einzigen Quelle: Ráichéal. Für sie war es ein leichtes, den in jenen Tagen wie ein gehetzter Wolf agierenden Eoganacht in eine vorgegebene Richtung zu drängen. Und ebenso leicht fiel es der gewieften Frau, den Verlust eines Segelschiffs unter „Sturmschäden“ abzuhaken und den Neugierigen im Rat plausibel zu machen. Wer bohrt denn nach, wenn es um Seekrieger geht, von denen einige nicht einmal aus der Stadt stammten, sondern aus den Küstendörfern im Umland angeworben wurden.
… Zudem rumorte es zur selben Zeit in den Gassen der Stadt ganz gehörig. Die „Schwarzen Schatten“ (zur Erinnerung: es sind die originalen „Schwarzen Schatten“, die sich damals noch keiner Konkurrenz erwehren mussten und erst später namentlich darauf bestanden, als die „Wahren Schwarzen Schatten“ zu gelten) bliesen zur Jagd auf Eoganacht, und das nicht einmal mehr hinter vorgehaltener Hand, sondern überall dort, wo sie auf Sympathien hoffen und treffen konnten. Und diese Plätze wurden immer zahlreicher, und die Aufrufe fanden immer seltener zu nachtschlafender Zeit in schummrigen Ecken statt.
Die wenigen Eingeweihten um Ráichéal waren rasch mit Beschuldigungen zur Hand, als Eoganacht so plötzlich verschwand. Dahinter konnten nur die Rädelsführer stecken, die dunkle Brut, die sich den Namen „Schwarze Schatten“ auf die Stirn geschrieben hatte. Alles was in den vergangenen Monden unerklärlich war, alles was nach Unfähigkeit des Stadtherrschers schmeckte, wurde nun kurzerhand den „Schwarzen Schatten“ ins Buch geschrieben. Bevor sich der Widerspruch regen konnte, waren die Köpfe des Schattenbundes festgenommen, und kaum einen Lidschlag später rollten die Köpfe. Fürs erste hatte Ráichéal klar Schiff gemacht: ihr Gemahl war dort, wo er nach ihrer Ansicht am besten aufgehoben war – und die größten Widersacher aus der Stadt gleich mit dazu. Nun sollte doch endlich wieder ein ruhiger Wind durch die Gassen der Hafenstadt wehen …
Zumindest konnte Ráichéal die folgenden Jahre aufatmen – und sich ganz auf die Anleitung ihres Sohnes Cuílen konzentrieren. Sie hatte die Fine so gut im Griff, dass seiner Nachfolge als Fürst nichts im Wege stand. Bis zu seiner Volljährigkeit oblag es sogar ihr, die Amtsgeschäfte in seinem Namen zu leiten. Das alles fand sein jähes Ende, als sie sich auf dem Gipfel des Triumphes wähnte: Ihr Sohn Cuílen wird kaum zum neuen Stadtfürst ausgerufen, eine sagenhafte Feierlichkeit lässt die Stadt im Freudentaumel versinken – aus dem Ráichéal mit einem schrecklichen Aufschrei erwacht, als ihr am nächsten Morgen vom Tod des geliebten Sohnes berichtet wird.
Ein in vielen Jahren mühseliger Arbeit aufgebautes Werk bricht mit einem Schlag zusammen. Von diesem Schrecken erholt sich selbst eine zähe Frau wie Ráichéal nur schwer. Ob bewusst oder ungewollt, nutzen die Weisen Frauen die Zeit der Agonie, um selbst die Geschicke in die Hand zu nehmen. Ráichéal zieht sich auf ihre Stammburg zurück, ihre Hände sind leer und ihre Seele ausgedörrt. Viele Tage lang dämmert sie dahin, und selbst in den folgenden Monden und Jahren mangelt es ihr an Willenskraft, weshalb ihr Bedürfnis nach Macht und Einfluss brach liegt. Oder noch genauer: schlummert, denn eines Tages erwacht der alte Geist auf ein Neues.
Mittlerweile – wir schreiben das Jahr 2416 nL – ist der Coraniaid Amhairgin Fürst von Cuanscadan, die früheren Machtverhältnisse sind kräftig durchgeschüttelt worden, neue Gesichter haben sich und andere in Positionen gehoben, die ehedem Ráichéal und ihre Vertrauten innehatten. Doch in Ráichéal würde kein Tröpfchen Coraniaidblut fließen, wenn sie nicht genau dies als Herausforderung ansähe. Wie war das noch, steckt nicht hinter den „Schwarzen Schatten“ (den neuen, den nicht wahren) ein Individuum mit dem Namen „Dubh Cochall“, den noch niemand gesehen hat und der die Fäden in der Hand hält? Kann es nicht sein, dass Dubh Cochall, der Vermummte mit Kapuze, gar kein Mann ist? Und wenn doch, wer legt die Hand dafür ins Feuer, dass diesem Hintermann nicht noch ein Hintermann auf Schritt und Tritt folgt? Oder ist am Ende der Hintermann gar keine Frau? Und was hat eigentlich der „Kult der Blauen Auster“ für einen Anlass, aus dem Untergrund in Atha Cliath zu kriechen und seine Augen nach Cuanscadan zu richten? Das sind viele Fragen, auf die ebenso viele Antworten gegeben werden können. Welche die richtigen sind – die Zeit wird es zeigen …
In diesen Tagen jedenfalls beobachtet Ráichéal aus dem Burgfenster ihren Enkelsohn Eogan (!), wie er sich geschmeidig auf sein Pferd schwingt und zum Tor hinausreitet. Eogan ist kürzlich 16 Jahre alt geworden, seine Mutter (Cuílens jüngere Schwester Cáit) lebt ohne weiteren Anhang auf Dún Neal, sodass Eogan vaterlos aufgewachsen ist. Wer jedoch Eogans Werdegang verfolgte, der konnte beobachten, dass Ráichéal gleich zwei Rollen sehr gut spielte: sie war für Eogan strenger Vaterersatz und weitsichtige Großmutter zugleich.
Nun also brütet die fidele und tatkräftige alte Fürstin in ihrem Gemach darüber, wie der lästige Coraniaid auf dem Fürstenthron beseitigt … Nun, beseitigt vielleicht nicht, es genügt doch schon, ihn dorthin zu komplementieren, wo er hergekommen ist. Andererseits: sie weiß es selbst am besten, dass Coraniaid störrisch bis zum Tode sein können, und wenn er denn nicht einsehen sollte, dass Eogan der bessere Fürst ist, dann … Der Tag wird kommen, da ist sich Ráichéal sicher, und dann wird sie ihre Fäden enger ziehen wie eine alte Spinne, so dass auch ein wendiger Coraniaid sich im Netz verfangen wird …